The Rockies ain’t too far from here…

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Heute ist Dienstag, der 24. Mai, wir sind mittlerweile in Wellington angekommen, einer kleinen Stadt gute hundert Kilometer nördlich von Denver, dem „Tor in die Rocky Mountains“. Seitdem wir den Missouri überquert haben, haben wir viel erlebt, wir sind durch die Badlands gefahren, durch die Black Hills, durch die Prärie und durch die weiten Hügelketten, bis wir endlich die ersten richtig hohen Berge auf dieser Reise gesehen haben. Bevor wir uns diesen Teil unseres Trips genauer anschauen, kehren wir aber nochmal kurz gemeinsam zurück in die Great Plains. Veikko hat zwar schon jede Menge über den Wind und die Straßen geschrieben, aber diese Gegend hat mich so beeindruckt, dass ich unbedingt auch noch ein paar Gedanken dazu festhalten will.

Tatsächlich hatte ich vor diesem Teil der Reise am meisten Respekt, jetzt, wo wir durch sind, kann ich das ja sagen. Zum einen wegen der Einsamkeit und der alles andere als dichten Besiedelung. Alle Leute, denen wir von unserer geplanten Route erzählt haben, waren sofort mit Warnungen am Start: Es würde einsam werden, keine Menschen, keine Gasstations, keine Versorgung, und vor allem langweilig, einfach nur „plain boring“. Und natürlich der Wind: In den USA herrscht statistisch gesehen hauptsächlich Westwind, wir würden also in „the wrong direction“ fahren und eine harte Zeit haben. Nun, für uns haben sich beide Vorhersagen nicht wirklich erfüllt. Es stimmt, die Plains sind nicht dicht besiedelt, man ist aber auch niemals alleine. Es gibt kleinere Dörfer, Farmen und Siedlungen entlang der größeren Straßen, es gibt Motels und Tankstellen. Und es gibt jede Menge Autos: Wenn wir wirklich mal Hilfe oder Wasser gebraucht hätten, hätten wir sicherlich jemanden anhalten und um Unterstützung bitten können. Allein oder verloren haben wir uns jedenfalls nie gefühlt. Mag sein, dass das in Kansas oder Iowa anders ist, aber in Minnesota und South Dakota hatten wir keine Probleme.

Und was auf gar keinen Fall stimmt, ist, dass die Gegend langweilig ist. Im Gegenteil, für mich war es ein absolut prägendes Erlebnis, mich mehrere Tage in einer Landschaft wie dieser aufzuhalten. Diese endlose Weite, diese völlig bizarren Distanzen, die Perspektiven auf Erde und Himmel habe ich so noch nirgends erlebt. Hier fühlt man sich als Bodenbewohner tatsächlich extrem klein, der Himmel spannt sich unendlich hoch über der Straße, der Horizont verschwimmt zu einem silbrigen Gleißen, die Entfernung wird zu einer Illusion und ist nicht mehr greifbar. Die Straße verschwindet im Nichts, die Telegraphenmasten verschmelzen zu einer durchgehenden Wand, obwohl sie weit auseinander stehen. Ich glaube, soweit konnte ich noch nie irgendwohin gucken. Die Great Plains tragen ihren Namen jedenfalls wirklich völlig zu Recht. Frei nach JBO: Die Erde ist zwar keine Scheibe, aber hier ist sie definitiv flach (wer ausrechnen will, wie weit man tatsächlich schauen kann, soll sich das sehr gute Video „Wie weit ist es bis zum Horizont“ der hervorragenden Band Knorkator angucken. Meine Augen sind etwa 165 cm über dem Boden ;-). Es stimmt schon, als Tourist muss man nicht unbedingt nochmal in diese Gegend zurückkehren, aber einmal hier gewesen zu sein, hier durchzufahren, diese gigantischen Entfernungen mit eigenen Augen zu sehen, diese Weite zu spüren ist einfach der Hammer.

Und wegen dem Wind: Wir hatten tatsächlich Glück. Wir hatten nicht durchgehend „headwind“, wir haben alle Arten von Winden kennengelernt. Gegenwind, Seitenwind, Rückenwind (und nach zuviel Frittiertem manchmal auch 1 kleiner Magenwind). Wir haben gelernt, dass Seitenwind sogar am schlimmsten ist: Es ist eigentlich genau anstrengend wie bei Gegenwind, zusätzlich muss man aber auch noch ständig richtige Arbeit leisten, um das Fahrrad unter Kontrolle zu halten, damit man nicht a) in den Verkehr, oder b) in den Straßengraben eingeschoben wird. Bei Gegenwind kann man zumindest den Kopf ausschalten, sich im Windschatten abwechseln und sich ganz aufs Vorwärtstreten konzentrieren.

Okay, man merkt, dass die Plains wirklich Eindruck auf mich gemacht haben. Jetzt aber genug davon, irgendwann erreichen wir schließlich den Missouri und kommen danach endlich wieder auf Straßen mit Hügeln und Kurven (!). Wir haben herrliches Frühlingswetter, strahlend blauen Himmel, alles fühlt sich richtig und geschmeidig an. Es geht über wenig befahrene Highways dahin, bis wir endlich unseren ersten Nationalpark erreichen, die Badlands.

Der Name für diese Gegend hat sich durchgesetzt, weil hier nichts als Felsen und unfruchtbarer Boden zu finden sind. Mit großen Mühen und unter unendlichen Entbehrungen haben die ersten Siedler versucht, dem Land ein paar Felder oder sonstwie bestellbares Land abzuringen, freilich vergebens. Der moderne Mensch hingegen kann sich mit einem kalten Softdrink auf den Parkplatz stellen und dieses Naturwunder ausgiebig betrachten. Aus den „Onkel Dagobert: Sein Leben, seine Milliarden“ – Comics von Don Rosa ist die Gegend uns allen wohlbekannt.

Wir sind fasziniert und auch ein bisschen ergriffen, nicht nur von der einzigartigen Landschaft und den schroffen Felsformationen, sondern auch, weil hier in gewisser Weise ein Wendepunkt auf unserer Reise stattfindet, es fühlt sich ein bisschen so an, als würden wir vom „Arbeitsteil“ in den „Urlaubsteil“ der Tour übergehen. Wir fahren genüsslich die Straße entlang, die durch den gesamten Park führt und alle paar hundert Meter atemberaubende Ausblicke und neue Perspektiven auf die Felsen und die Ebenen dahinter eröffnet. Alles leuchtet in der späten Nachmittagssonne. Die Mühen und Strapazen der bisherigen Reise haben sich gelohnt, aber sowas von. Und die Amis verstehen wirklich was von „scenic byways“, also vom Bau von Panoramastraßen. Man fährt wie durch ein riesiges Freilichtmuseum der Erdgeschichte.

Abends zelten wir auf dem einzigen Campground im Park, leider ist es ziemlich windig, aber wir treffen Willi, Jen und Luis aus Hamburg, die ein halbes Jahr mit einem alten Camper durch die USA tingeln, und trinken ein paar Bierchen zusammen, und haben eine gute Zeit. Dann geht’s auch schon wieder raus aus dem Park, ein View Point jagt den nächsten, die Felsen und die kleinen Schluchten sind bizarr und surreal. Über uns braut sich ständig Regen zusammen, verschwindet aber immer wieder, bevor wir nass werden, und das Wechselspiel der Beleuchtung macht alles noch eindrucksvoller.

Unser Ziel für heute heißt Rapid City, eine größere Stadt vor den Black Hills. Weil wir vormittags so viel geguckt haben, kommen wir erst spät abends an, aber die Silhouette der Berge vor einem feuerroten Sonnenuntergang entschädigt für alles.

Wir finden ein billiges Motel und können noch ein bisschen Abendessen in der Tankstelle kaufen, alles andere hat schon zu bzw. ist nur per Auto und DriveThru zu erreichen. Eigentlich ist jetzt auch langsam dringend mal Zeit für einen Tag Pause, unser letzter echter Ruhetag war Anfang Mai in Chicago. Im Motel oder in der Stadt wollen wir aber nicht bleiben, also fahren wir am nächsten Vormittag nach einem ausgiebigen Brunch knapp 20 km in die ersten Ausläufer der Berge hinein, ganz locker, und chillen den Rest des Tages in einer kleinen Lodge.

Mit Blick auf die Berge in der Sonne auf einem Sofa zu sitzen und endlich mal wieder ein bisschen Musik zu hören tut richtig gut. Tags darauf geht’s dann richtig in die Black Hills. Unsere erste Station ist Mount Rushmore, ein ordentlicher Anstieg führt dort hinauf, vorbei an Kiefernwäldern und riesigen Granitformationen.

Mount Rushmore selbst ist beeindruckend amerikanisch. Wir gucken alles ausgiebig an. Dann geht’s Richtung Süden, weiter durch die Black Hills. Hierbei handelt sich, ungeachtet des Wortes „Hills“, also „Hügel“, um Berge, genauer gesagt um ein Mittelgebirge, und hier kann es schon mal vorkommen, dass auch im Mai… naja, es schneit wieder und es wird richtig kalt. Wir haben natürlich unsere Sommersachen an und bevor wir richtig kapieren, wie kalt es tatsächlich ist, sind wir schon komplett durchgefroren. Wir retten uns in die nächste Stadt und wärmen uns in einem Pizza-Hut auf.

Mit vernünftiger Kleidung schaffen wir den Rest der Etappe dann aber auch noch, und es wird sogar noch einer der besten Tage überhaupt: Wir fahren auf dem Mickelson-Trail, mal wieder einer alten Bahntrasse, die komplett von Nord nach Süd durch die Black Hills führt, und es ist einer der schönsten Radwege, den ich je gefahren bin; wenn hier noch Schienen lägen, wäre das definitiv ein perfekter Kandidat für „Die schönsten Bahnstrecken der Welt“ nachts auf BR.

Die Trasse scheint direkt aus einem Wildwest-Film entsprungen zu sein, und wer Filme wie „Zurück in die Zukunft“ (Teil 3) kennt, kann sich perfekt vorstellen, wie es hier aussieht. Manch einen mag es auch an den Cumberland Forest aus Red Dead Redemption (Teil 2) erinnern. Der Weg führt durch lichte Kiefernwälder, über Schluchten, an roten Felsen vorbei, im Abendlicht wirkt alles fast schon übertrieben unecht, wie aus einer Filmkulisse. Man braucht nur noch ein winziges Fünkchen Phantasie, um eine alte Dampflok vor dem inneren Auge durch die Landschaft tschuggern zu sehen. Abends nächtigen wir im Cowboy-Inn-Motel, das selbst auch schon historischen Wert hat. Der modernste Einrichtungsgegenstand ist ein Röhrenfernseher aus den frühen 90er Jahren. Das ist zwar nicht die Route 66, aber wir sehen auf unserer Reise viele alte verlassene Motels und aufgegebene Tankstellen, und man erahnt auf vielen der alten Highways noch den Glanz der vergangenen Tage, als die Interstates noch nicht gebaut waren und Fliegen noch nicht so selbstverständlich war.

Nach den Black Hills haben wir jetzt ein paar Tage ohne nennenswerte Naturhighlights vor uns, bis wir vor den Rockies stehen. Trotzdem macht das Fahrradfahren auch hier großen Spaß, trotz wechselnden Winden, mal von der Seite, mal von vorn, mal von hinten. Wir fahren auf einsamen Landstraßen und auf wenig befahrenen Highways dahin, die Landschaft ändert sich zu hügeliger Prärie, Rinderherden und Felsen, wenig Bäume. Außerdem überqueren wir die Grenze zu Wyoming.

Es ist schön, einfach so dahinzufahren, fast schon meditativ. Auf solchen Straßen kann man sich nicht verirren, und wir fahren immer wieder auch mal im Abstand von ein paar hundert Metern zueinander. Allein zu sein, nur mit den Geräuschen des Fahrrads, des Winds und der Natur ist unglaublich entspannend, ich schalte meinen Kopf aus und suche nach neuen Gedanken und nach alten Liedern. Hinterm Horizont geht’s weiter. Und zwar nach Lusk, einer kleinen Stadt, wo wir spät und durchgefroren ankommen und wo gerade irgendeine Convention stattfindet. Zelten kommt leider schnee- und temperaturbedingt nicht in Frage, und wir finden nur noch ein superteures Luxushäuschen. Aber gut, dafür gönnen wir uns Fertigpizza und haben einen netflix-fähigen Fernseher und können endlich mal einen Film in voller Länge und ohne Werbeunterbrechung ansehen, was im amerikanischen Free-TV absolut (!) unmöglich ist. Wir gucken True Grit, sieht genauso aus wie die Gegend, durch die wir gerade fahren. So hat alles seine guten Seiten.


Am nächsten Tag bewegen wir uns weiter Richtung Süden, aber vorher kreuzen wir noch den Verlauf des Oregon-Trails, einer wichtigen Strecke für die Siedlertreks in den 1850er und 60er Jahren, die an der Westküste ihr Glück suchten. Wir sehen das Register Cliff, ein großer Felsen aus weichem Sandstein, in den die vorüberziehenden Trekker Namen und Daten für ihre später nachkommenden Angehörigen hinterließen. Wir sehen auch Spuren von den alten Planwagen, die sich dort in den Kalkstein eingegraben haben. Eine beschwerliche und gefährliche Reise von Ost nach West. Während unserer Nachmittagsrast kaue ich andächtig ein Stück kalte Pizza vom Vortag und fühle mich dem entbehrungsreichen Leben der Siedler sehr nahe. Auch irgendwie seltsam, dass dieses Stueck alter amerikanischer Geschichte so greifbar ist, wenn man davor steht, und eigentlich auch noch nicht wirklich lange her. Der wilde Westen ist hier tatsaechlich ziemlich lebendig.

Abends zelten wir in Wheatland im Stadtpark, zwar ohne Dusche, aber dafür kostenlos und ganz legal, das fühlt sich gut an nach vier Nächten Motel. Endlich wieder draußen sein. Die Nacht ist kalt, aber es geht gerade so, – 2° C werden es aber schon gewesen sein. Dafür windstill und strahlend blauer Himmel am nächsten Morgen, was will man mehr.

Unser nächstes Ziel ist Cheyenne, wir haben dort endlich mal wieder Warmshowers-Leute gefunden, bei denen wir unterkommen. Mal wieder stärkerer Gegenwind. Nachmittags hält auf einmal ein Pickup vor uns auf der Straße und ein Mann steigt aus und wartet auf uns. Er spricht mich an: „Are you Andy?“ Ich bin perplex. Es ist Ted, unser Host, der der Meinung war, bei diesem Wind wäre es unzumutbar, uns weiter fahren zu lassen und deshalb beschlossen hat, uns entgegen zu fahren. Wir hätten die Etappe zwar auch noch aus eigener Kraft geschafft, aber wegschicken wollen wir Ted natürlich auch nicht und außerdem muss man die Feste feiern, wie sie fallen, also packen wir unsere Räder auf den Pickup und lassen uns die letzten 20 km mitnehmen. Witzigerweise sieht die Landschaft vom Auto aus ganz anders aus, irgendwie viel langweiliger und eintöniger… Ich verstehe jetzt ein bisschen besser, warum die Leute den Kopf schütteln, wenn man ihnen erzählt, dass man hier mit Fahrrad durchfahren will.

Ted und Jolene sind jedenfalls super nett und wir verbringen einen lustigen Abend. Am nächsten Morgen mal wieder Schnee, das kann hier so nahe an den Bergen schonmal passieren. Wir haben aber eine kurze Etappe vor uns, deswegen warten wir einfach ein bisschen und starten, als der Schnee aufhört und der Himmel aufklart. Unser nächstes Ziel ist Wellington, direkt am Rand der Rockies und außerdem in Colorado. Wir fahren mit großartiger Kulisse den ganzen Tag Richtung Süden, mal auf Nebenstraßen, mal auf Interstates, mit Warnwesten und Rückenwind.

Das geht erstaunlich gut, aber wenn möglich fahren wir natürlich auf den weniger befahrenen Highways. Wir haben Kathy in Wellington über Warmshowers angeschrieben, sie ist zwar selbst nicht da und kann uns deswegen nicht beherbergen, gibt uns aber direkt in die Obhut ihrer Nachbarn, zu Jeff und Cristy, wo wir sogar endlich mal einen echten Ruhetag verbringen können, das heißt komplett ohne Fahrradfahren. Wir werden mal wieder äußerst herzlich aufgenommen und spielen eine Runde Tischtennis, es fühlt sich gut an, mal irgendwas zu machen, das nichts mit Fahrradfahren zu tun hat.

Heute, also am Ruhetag, wollen wir endlich unsere Ketten wechseln und alles mal schön sauber machen, Zelte trocknen, Wäsche waschen, bevor es dann auf dem Highway 14 über die Rockies geht. Das wird bestimmt ganz toll, unser erster echter Hochgebirgspass.

Bonusaufgabe: Das nachfolgende Bild stellt einen von mir erdachten Zungenbrecher dar:
„Ein Sattelschlepper schleppt ’nen Sattelschlepper schleppt‘ nen Sattelschlepper“. Wer das dreimal hintereinander sehr schnell fehlerfrei aufsagen kann, darf sich zur Belohnung einen Eiskremkonus holen.

Dieser Beitrag hat 7 Kommentare

  1. Elli

    Die Fotos sind richtig super geworden<3

  2. Helga

    Sowas von beeindruckend … der Bericht und die Bilder!
    Gute Fahrt und viele interessante Begegnungen weiterhin!

  3. BNO

    Bisher der schönste Textene!

  4. Birgit

    Atemberaubend! Finde keine Worte für die traumhaften Bilder und poetischen Gedanken!

  5. Ewald Sauger

    Wir radeln durch Wyoming, wir radeln mit dem Rad – Hurra, wir verblöden – Für uns bezahlt der Staat!

  6. Jeff

    A few years ago, Ronna and I stayed at the same campground in Badlands NP where you are at the picnic table. We did not, however, drink Bud and PBR.

  7. Kotti

    Kaum sitzt ich hier und warte kommen die von nah die andern bleiben fern,
    ich warte und ich warte das trift genau den Kern.
    Die Einsamkeit betrübt mich ganz allein an diesem Ort,
    der Andy und der Veiko die sind noch so weit fort.
    Ich lese eure Zeilen und fühl mich ganz betroffen,
    deswegen hab ich auch mich auch gestern voll …

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